42 TIPPS Das Stadtgespräch OLIVER PLASCHKA »Marco Polo – Bis ans Ende der Welt« Siebeneinhalb Jahrhunderte ist es her, seit eine venezianische Kaufmannsfamilie bestehend aus Vater, minderjährigem Sohn und Bruder aufbrach, um einem Handelsweg zu folgen, der sie buchstäblich bis ans Ende der damals bekannten Welt führte. Noch heute ist die Reise, die Marco Polo mit Vater und Onkel auf sich nahm, ausgesprochen beeindruckend, wie beispielsweise das, heute leider vergriffenen, wunderbare Fotobuch von Michael Yamashita »Marco Polo – Eine wundersame Reise« (GEO, Frederking & Thaler) von 2005 nachweist. Und auch die fabelhafte Ausgabe »Marco Polo – Von Venedig nach China« (Erdmann), die neben dem Text 31 zeitgenössische Darstellungen zeigt, ist leider vergriffen. Umso lobenswerter ist es, dass sich ein junger Autor Anfang 40 an den Stoff heranwagt und seinen ersten historischen Roman und meines Wissens die einzige Romanbiographie des großen Reisenden schreibt. Absehen von Gary Jennings reißerischem »Der Besessene« (The Journeyer) von 1974 (deutsch 1985), der ebenfalls vergriffen ist. In seinem Nachwort nennt Plaschka seinen Roman treffender Weise einen »Teppich, gewebt auf einem Gerüst von Fakten«. Auf jeden Fall kann man Oliver Plaschka eine tolle Recherche, literarisches Können beim Bau seiner 857 Seiten-starken Erzählung sowie eine Menge Phantasie beim Füllen der zahlreichen »Leerstellen« bescheinigen – denn schließlich war Marco Polo nicht bei Facebook. Die Quellenlage ist bestenfalls diffus, allein schon, weil sein chinesischer oder mongolischer Name nicht bekannt sind. Ebenso geschickt umschifft der Autor die Frage, die sich seit Generationen die Menschen angesichts Marco Polos stellen: Was für ein Mensch war er denn nun? Ein heldenhafter Abenteurer? Ein geistreicher Berater der Mächtigen? Oder war er vielleicht doch nur ein raffinierter Betrüger, der seinen Spitznamen Messer Millione zu Recht trug? Diese Fragen gehen auch dem Geschichtenerzähler Rustichello durch den Kopf, als er der Erzählung seines Mitgefangenen und Zellennachbarn Marco Polo in genuesischer Gefangenschaft lauscht. Hat dieser Marco es wirklich bis an den Hof des Kublai Khan geschafft? Doch die Fragen nach der Wahrheit verblassen mehr und mehr, je stärker der geschickte Geschichtenerzähler Marco seinen Zuhörer mit seinen Schilderungen gefangen nimmt. Und so reist Rustichello mit Marco zurück in die Vergangenheit, bestaunt mit ihm die Wunder Asiens, hört von dem Geschick, mit dem der Venezianer alle kulturellen Gräben überwinden und zu einem der wichtigsten Männer Chinas aufsteigen konnte. Und dem Leser geht es schon bald nicht besser, denn Marco erzählt alles der Reihe nach, aber seine Episoden greifen ineinander und bald schon geht es uns wie dem Sultan, der Scheherazades Erzählungen Tausend und eine Nacht lang lauscht. Nun, ganz so lange dauert die Lektüre von »Bis ans Ende der Welt« nicht, aber das Preis-Leistungsverhältnis für den Wälzer ist mit 24,99 Euro für fast 900 Seiten schwer in Ordnung vor allem angesichts der »lockeren Schreibe« der Autors, der keine Langeweile aufkommen lässt. Erschienen bei Knaur. WIEDERENTDECKT Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist Eigentlich geht es in der Rubrik »Alte Literatur wiederentdeckt« immer um literarische Werke vergangener Jahre, die Verlage lobenswerter Weise erneut auflegen oder zum Teil sogar zum ersten Mal herausbringen. Diesmal geht es um eine Neuerscheinung, nämlich das soeben erschienene Buch von Stefan Bollmann (bei der DVA, 283 Seiten, 19,99 Euro), der dazu rät, Goethe wieder zu entdecken. Das ist offenbar nötig, denn die jüngere Generation kennt Goethe zum Teil nur als Zitat aus dem Film »Fack Ju Göhte« (schon der Titel des Films beleidigt den Deutsch- wie den Englischlehrer, ist aber trotzdem witzig), die älteren denken noch an das Podest, auf dem der Dichterfürst stand und steht. Seit Loriot wissen wir, dass ein Leben ohne Mops möglich aber sinnlos ist. Doch ohne Goethe? Das kommt ganz auf unser Bild von Goethe an, so der Tenor dieser so charmanten wie leichtfüßigen Besichtigung von Goethes Leben. Stefan Bollmann zeigt uns Deutschlands größten Dichter, wie wir ihn noch nicht kannten: mehr Zeitgenosse als Klassiker, nicht Meister, sondern Befreier. Dabei ist das flott geschriebene Buch weder Biographie noch Goethe-Ratgeber. Eher eine spielerische und äußerst lebenspraktische Initiation in die Gedankenwelt Goethes und viele seiner Werke – und eine Ermutigung dazu, dem Pfad der eigenen Kreativität zu folgen. Auch denke ich, dass ein willkommener Nebeneffekt sein könnte, dass manch ein Leser nach der Lektüre des Bollmann Buchs zum einen oder anderen Original greifen wird, denn Goethe als Taschenbuch gelesen ist auf jeden Fall mehr wert als Goethe im Goldschnitt in der Bücherwand verstaubt!
TIPPS 43 PERLEN DES LOKALJOURNALISMUS Bauchchirurg schneidet hervorragend ab Ralf Heimann und Jörg Homering- Elsner haben es erneut getan. Sie haben akribisch Pleiten, Pech und Pannen bei den Kolleginnen und Kollegen der Lokalpresse gesammelt. Das ist natürlich irgendwie fies, denn es ist halt die Bestimmung der Tageszeitung, dass die Artikel meist von einem Tag auf den anderen geschrieben werden müssen. Und die Überschriften müssen dem Satz angepasst werden, denn ein einspaltiger Artikel kann natürlich keine Bandwurmüberschrift haben, genauso kommt ein vierspaltig gesetzter Artikel nicht mit zwei- Wort-Überschriften aus (es geht ja nicht um die Bild-Zeitung). Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie das heute läuft, aber früher haben oftmals andere Leute die Überschrift gemacht als derjenige Redakteur oder freie Mitarbeiter, der den Artikel geschrieben hat. Doch selbst wenn das nicht so ist, besteht immer noch der enorme Zeitdruck, der ein gründliches nochmaliges Lesen mit entsprechender Muße verhindert. Bei allem Verständnis kommen natürlich lustige Ergebnisse in der Lokalpresse dabei heraus. »Perlen des Lokaljournalismus« ist eine Anlaufstelle im Netz, bei der Scans, Fotos und Screenshots verunglückter Formulierungen, unpassender Headlines und missratener Bildunterschriften aus der Lokalpresse eingereicht werden können. Eine Viertelmillion Fans hat die Seite, auf der dann einiges zusammenkommt. »Lepragruppe hat sich aufgelöst« war das erste Buch, das Ralf Heimann und Jörg Homering-Elsner zusammengestellt haben. Etwa 200 weitere Ausrutscher bietet nun der aktuelle Folgeband »Bauchchirurg schneidet hervorragend ab« (Heyne, 207 Seiten Spaß, 9,99 Euro). Auch das neue Buch beweist wieder, dass oft die unglaublichsten Geschichten im Lokalteil stehen: Ein Optiker ist nach Einbruch fassungslos, beim Schießabend kann man nette Leute treffen, es gibt einen Schnuppertag in der Biogasanlage, und Vollpfosten sichern eine Unfallstelle. Auch ungewollt Makabres findet sich, wenn etwa für einen neuen Ratgeber geworben wird: Was tun nach dem Tod? An anderer Stelle heißt es: Mord-Opfer fuhr selbst ins Spital. Manchmal macht auch einfach ein Buchstabe den Unterschied, zum Beispiel beim Schlauchflicken ohne l… Aber natürlich gibt es auch ganz stubenreine Meldungen wie die, dass das Radfahren im Kreis immer beliebter wird, wozu die Autoren dann kommentieren »Der Nachteil ist natürlich: Vielen wird davon schwindelig«. Zum selbst Lesen und Verschenken unbedingt geeignet!
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